Deep Brain Simulation

Was für ein Name: Karma! So hieß die Narkoseärztin, die meine Hand in die ihre nahm, als meine Schmerzen zu groß wurden. Als der syrische Schnitter sein kaltes Werkzeug, die sterile, blank aufblitzende, superscharfe Klinge in das Fleisch drückte und einen stummen Halbkreis zog, der erst Momente später überrascht eine rote Linie zeigte (was ich natürlich nicht sehen konnte, aber die Spur der sickernden Wärme spürte ich doch) und die Haut vom blutenden Schädel abzog wie die Schale von einer frischen Orange. So hörte und fühlte es sich an: das Abreißen eines gut klebenden Pflasters von roher, wunder Haut. Das Abziehen des Felles vom Kadaver eines Kaninchens. Oder – als urbane, coole „Outdoor“-Variante – das Aufreißen eines auf meinem Kopf implantierten Klettverschlusses. Da lag er offen und frei, der weiße, rote Schädel.

Mein Chirurg war – und ist es mutmaßlich immer noch – ein ruhiger, leiser und konzentrierter Mann der Tat, der in seiner Arbeit aufging, wie man so sagt. Wie wohl alle Operateure dieser Welt hatte er wenig Interesse an mir und mehr an der Aufgabe oder an der Gelegenheit zu zeigen, was die moderne Medizintechnik und damit er so zu leisten imstande sind. Das ist in meiner Lage wenig verwerflich, denn er machte seinen Job gut, schnell und gründlich – und hatte mich wenige Tage später bereits professionell vergessen. Ganz der ordentliche Handwerker,

Deep Brain Simulation

arabisch etepetete, sozusagen. Die verabredete Kontrolle in der Woche nach meiner Operation fand fast zufällig und nebenbei halb auf dem Flur statt, und er musste lange rätseln, bis er mich zuordnen konnte, der ich vor dem Büro scheinbar wie irgendein Patient oder Besucher seinen Weg kreuzte.

Karma – ein passenderer Name wäre mir niemals eingefallen! Gutes Karma, das meinen Willen zum Durchhalten verdoppelte und die phantasierte Hoffnung stärkte, nicht allein oder nur passives Opfer zu sein. Mein persönliches Karma, eine himmlisch schöne Frau in der himmelblauen Uniform der himmlisch-göttlichen Operateure. Ein Engel für mich ganz allein!

Ich glitt aus einer ersten Narkose und aus dem toten Schlaf, dessen Kommen ich gar nicht bemerkt hatte. Ich weiß noch, dass ich frühmorgens eine „alles wurscht“- Droge, die berühmte LmaA-Tablette bekommen, mich bei der Fahrt mit dem Bett zum Lift (dem finalen Defilee vor dem Öffnen des Kopfes) von den diversen Personen locker-fröhlich verabschiedet hatte und von den beiden blonden Krankenschwestern in den Aufzug geschoben wurde. Dann nichts mehr.

Ich hatte mich entschieden, den radikalsten aller Wege zu gehen und Morbus Parkinson mit offener, roher Gewalt entgegen zu treten, zurück zu feuern mit artifiziellen Botenstoffen aus dem Arsenal von Chemie und Kraftstrom. Dazu gehörte als der bekannten Weisheit letzter Schluss dieses Eingraben zweier energetischen Geschütze tief im Hirn. Medikamente allein sprachen nach zehn Jahren dieser von Nichtwissen und irrationalen Vermutungen umrankten Krankheit nur mehr unberechenbar und sehr

Deep Brain Simulation

reduziert an; das Geheimnis rund um Parkinson, das mich zum Zuschauer meiner selbst machte und zum hilflosen Akteur in einem bösen Reigen, war noch lange nicht verbraucht oder aufgeklärt. Was mir blieb, war die tägliche Irritation über eine sich ständig ändernde Kraft, die mit mir tat, was sie wollte. Gänzlich nüchtern war ich, als ich den Entschluss dazu fasste, mich unter das Messer zu legen und eine zusätzliche Energiequelle in die Brust resp. ins Gehirn zu pflanzen, und doch war ich immer noch naiv und in der Tat ahnungslos, als meine neue Geschichte endlich begann. Denn ich wusste nicht, was für ein Kapitel ich damit aufschlug.

Als ich damals nach wiederholten Untersuchungen die endgültige Diagnose „Morbus Parkinson“ erhielt, hatte ich mich innerlich bereits längst auf sie eingestellt. Ich wusste oder befürchtete oder ahnte wohl schon vorher, dass das Urteil nur so ausfallen konnte; kein Schimmer, woher meine Sicherheit stammte. Doch sie machte mich kühl und kalt; ich war und bin immer schon ein Kopfmensch, nun ergab ich mich ohne Schmerz oder Wut meiner gut gelernten Nüchternheit. Der erste von mir zu Rate gezogene Neurologe verneinte nach der Routineuntersuchung meine besorgte Frage, ob das Parkinson sein könnte, kategorisch; offenbar saß er/saßen wir einem Vorführeffekt auf und alle Parameter waren normal: Gehen? Normal. Sprache? Normal. Krumme Haltung? Normal. Schreiben? Normal. Riechen? Normal. Beweglichkeit? Normal. Als noch wahrscheinlicher aber will ich zu seinen Gunsten annehmen, dass der Arzt mir für meine Verspannungen und den schmerzenden Rücken in dieser sehr frühen Phase eine schlimmere Diagnose als „zu viel Schreib-

Deep Brain Simulation

tisch, zu wenig Sport“ ersparen wollte. Zu eindeutig waren die von mir beschriebenen Symptome, als dass ein Neurologe sie hätte ignorieren können. Ein Arzt, der meine potentiellen, künftigen Sorgen und mein Am-Liebsten-Gar-Nicht-Wissen-Wollen voraus denkt – ich sollte ihm eigentlich dankbar sein! Zwei Jahre später war ein anderer Neurologe sehr viel weniger zimperlich; der sagte mir beim Betreten des Sprechzimmers seine Erkenntnis ungefragt und rundheraus auf den Kopf zu. Parkinson! Gar keine Frage! Und das, ohne groß von seinen Zetteln aufzuschauen oder seine soeben mit viel Akribie gereinigte Brille aufzusetzen. Obwohl ich sozusagen mit einem Schlag überzeugt worden war, ließ ich noch alle Tests machen, um andere Möglichkeiten wie Hirntumor oder Ähnliches auszuschließen. Doch da waren alle Zweifel am Ergebnis und unrealistischen Hoffnungen auf eine andere Diagnose für meinen Kopf längst erledigt.

Parkinson, die Krankheit alter Männer, die das Leben hinter sich haben! Natürlich wurden sie gebührend bedauert und sie erhielten alles ihnen zustehende Mitleid einer christlich mitfühlenden Gemeinschaft, aber richtige Sorge und tiefe Anteilnahme brauchten sie doch gar nicht mehr, da sie an ihrem „Lebensabend“ angekommen waren. Ihre Kraft/Ihre Zeit war mit einer solchen Diagnose eben, nüchtern betrachtet, vorbei. Mit Parkinson, dieser großen, verstörenden Unbekannten, endete das gewöhnliche Leben; danach kam vermeintlich nur noch der Tod. Da war ich noch keine 45 Jahre alt.

Meine Variante dieser so genannten „Schüttel- lähmung“ beschränkte sich aufs Lahme: das Gehen

Deep Brain Simulation

fiel mir schwer, ich torkelte wie betrunken und hielt meinen rechten Arm eng an mich; meine gesamte rechte Seite verkrampfte schmerzhaft; alle Bewegungsmuster, die sich wiederholten, wie Zähneputzen oder Schreiben, führten bei mir zum Einfrieren und zur Unbeweglichkeit. Anfangs konnte ich durch Tricks verhindern, dass meine Behinderung auffiel; auch sprach ich nur mit sehr wenigen Menschen darüber, ja, selbst mein eigenes Bild von mir sollte mich intakt zeigen. Ich wollte das latente, gefräßige Mitleid meiner Umgebung nicht, den hässlich sanften Dackelblick wohlfeil gespendeten Mitgefühls. Hatte wohl Angst davor, als minder wahrgenommen zu werden. Im Laufe der ersten Jahre habe ich mich oft versteckt und mein Lachen gegen ein leeres Gesicht ohne Mimik eingetauscht, dessen Veränderung ich im Spiegel zunehmend kälter betrachtete, wie es mir immer fremder wurde und gar nicht mehr aussah wie ich.

Morbus Parkinson stahl mein Selbst, das Bewusstsein für die Welt, aber nicht das Leben! Denn an Parkinson stirbt man nicht, solange man sich nicht in den Bremsweg eines LKWs stellt, weil man einfach einfriert. Was für eine banale Monstrosität! Welche Ignoranz all meiner Wertvorstellungen von einem ehrlichen Kampf um mein Leben! Ich war mehr als beleidigt, da mir so ein „gnädiges Schicksal“ höchst ungerecht erschien: mir die schöne Welt zu nehmen und das graue Leben zu lassen anstatt mich zum vielleicht einsamen, aber doch zum Helden im Kampf mit dem drohenden Tod zu stilisieren. Dass Parkinson nicht das Ende bedeutete, lachte mir armen, pathetischen Dramatiker ins Gesicht! Das

Deep Brain Simulation

verspottete mich, indem es mich am Leben ließ; an einem Leben ohne greifbare Qualität.

Es dauerte Jahre, die ich nach außen hin in stoischer Ruhe verbrachte, doch drinnen brannte es loh. Ich hatte mich von Anfang an gefügt, weil mir einfach gar nichts Anderes übrig blieb als alles (!) zu akzeptieren. Dass Morbus Parkinson eine unheilbare Erkrankung ist, mit mir auf einer immer steiler werdenden Rutschbahn, an deren unreinem Ende ich wie Müll ausgespuckt werden würde.

Mein Widerstand formte sich ohne echte Heilungsaussichten nur langsam. Natürlich nahm ich alle Therapien wahr, schluckte viele bunte Pillen, trank selbst die fadesten esoterischen Säfte und klebte Pflaster. Auch die Operation am lebenden Hirn hatte ich bereits im Auge, von der es (damals) hieß, sie sei das letzte Mittel und deshalb so spät wie möglich vorzunehmen. Ich war also schon früh fest entschlossen und wartete ohne jede Ungeduld die zehn Jahre ab. Wenn ich schon krank sein musste, sollte wenigstens nach meiner Pfeife getanzt werden. Ich war doch das Spielfeld, der Gegner und der Ball in einem Spiel mit unsicheren Regeln. Da müsste doch ein Sieg – für wen auch immer – drin sein!

Was erwartete ich von diesem trotz aller inzwischen erreichten Routine immer noch riskanten Eingriff in meinen Kopf, also an der Quelle allen Übels? Ich wusste von vielen Erfolgen weltweit, bei denen völlig verkrümmte Patienten mit einem Mal wieder aufrecht und stolz wurden. Das wollte ich auch! Gehen statt torkeln! Beweglich sein statt steif! Nicht mehr aussätzig, bedauernswert und „Dackel“, sondern stark und zu allem fähig!

Deep Brain Simulation

Und ich rechnete mir aus resp. hoffte zumindest inständig auf die Wiederauferstehung meiner Stimme durch eine ähnlich deutliche Verbesserung der Gesichtsmuskulatur, obwohl dafür die Beispiele weniger und die Aussichten geringer waren.

Halbwegs zu mir kam ich durch die unangenehme Lage meines Kopfes, die irgendwie falsch war, sodass ich sehr schwer Luft bekam und schnarchend röchelte. Das war mir etwas unangenehm, aber unter diesen Umständen nicht allzu sehr. Ich hörte neben den Stimmen der Anwesenden – oder spürte! – auch das schabende Geräusch einer Rasierklinge, die in dem Moment gerade hinter meinem linken Ohr geführt wurde. Daraus entnahm ich, dass mein Kopf frei oder vermutlich nur auf einem kleinen Punkt, vielleicht so groß wie ein Korken, lag. Ich sackte wieder weg. Wie ich später merken sollte, waren „der Punkt“ vier stählerne Dornen an einem stählernen Ring, der meinen Kopf umklammerte. Vier Schrauben aus Edelstahl, die in meinem Schädel gebohrt waren.

Irgendwann erwachte ich richtig. Es fiel mir die Bitte meiner Frau ein, doch eine Haarsträhne zur Erinnerung an meine langen, fliegenden Haare, an meinen wirren, nicht zu bändigenden Haarschopf von früher/vorher mitzubringen; ich rief diesen sentimentalen Wunsch mit einem leicht scherzhaften Ton in den kühlen Raum, doch niemand antwortete. Ich versuchte es lauter, so gut es mir eben gelang. Keine Reaktion. Die Gespräche liefen weiter, ganz ohne mich. Ich glaubte beinahe nur, ich hätte gerufen.

Früher. Vorher. Wer war ich bis jetzt – und wer werde ich ab morgen sein? Meine Vergangenheit ist

Deep Brain Simulation

definitiv vergangen, aber wer bin ich heute? Und wo ist meine Zukunft?

Das war und ist mein Problem: ich höre und verstehe mich, weil ich weiß, was ich sagen will – und möchte glauben, auch die anderen hätten verstanden! Weit gefehlt. Von all den Handicaps, die mir MP zufügt, ist mein Nicht-Mehr-Sprechen- Können das furchtbarste und folgenreichste. Es stellt mich infrage.

Augenblicklich bemühte ich mich, schnellstens und ganz und gar zu mir zu kommen, denn ich wusste, was in den nächsten Stunden mit mir geschehen würde – und das war mehr als interessant, das wollte ich nicht durch Tranigkeit verpassen. Ein wenig nämlich schmeichelte mir, dass ich Teilnehmer einer Studie werden sollte, die mir mein Neurologe als ganz besonders und toll beschrieben hatte; das machte mich wichtig! Ich wäre ein Pionier für eine neue, doppelt so wirkungsvolle Technik und damit künftiger Held! Quasi. Durchschaut, geschweige denn verstanden hatte ich zu diesem Zeitpunkt allerdings im Detail nicht, worum es ging. Was bei mir hängen blieb von vielen Schlagworten und plakativem Werbeprospektgeklingel war die großartige Aussicht auf eine vielfach komplexere Technik mit potenzierten Möglichkeiten, tief drinnen im Hirn für eine neue Lebensqualität zu sorgen. Neben aller Unsicherheit über den Ausgang der Operation am offenen, lebenden – meinem – Hirn und trotz aller Angst vor einem großen Eingriff in meine Autonomie (was möglicherweise bis zur Veränderung meiner Persönlichkeit gehen könnte, wie immer wieder, auch noch heute, zu lesen ist) war ich sehr neugierig auf die Dinge, die da auf mich

Deep Brain Simulation

zukamen. Wirklich, ich war verzweifelt gespannt. Auf alles.

Mein Kopf war bombenfest arretiert in einem Ring bzw. einem halbrunden Skelett aus Plastik-oder Metallstreben, wie ich in der Spiegelung im Glas an der Decke erkennen konnte. Was sich dort oben verbarg, ob eine Kamera (wozu sollten von da oben Aufnahmen gemacht werden, von so einem starren Punkt?) oder Licht (warum sind eigentlich die Lampen nicht an?), konnte ich nicht herausfinden. Die assistierenden OP-Schwestern (ich glaubte, zwei Stimmen unterschieden zu haben, eine davon mit einem slawischen Akzent) montierten die grünen Tücher und Plastikplanen neben meinem Kopf. Wohl um den Tatort abzugrenzen bzw. herumspritzendes Blut und eventuell vorkommendes Hirn nicht die Einrichtung beschmutzen zu lassen – harharhar! Dann legten sie noch eine senkrechte Querstrebe vor meine Nase, die mit einem leisen, schweren, satten und vollen Ton einschnappte. Dem Klang nach könnte es auch Knochen statt Plastik gewesen sein, glaubte ich irgendwo gelesen zu haben, was mir nicht unmöglich scheint, da Knochenmaterial sich bestimmt nicht verformte, wenn mal der mechanische Druck auf den Astralschädel zu groß würde.

Das Spiegelbild war deutlich genug, um mich zu interessieren, aber ausreichend fern und damit viele Fragen offen lassend. Ich wollte alles sehen und erleben, doch nicht den nahenden Schmerz. So vieles hatte ich im Vorfeld gelesen über diese Operation, nur um nun zu bemerken, dass sich die Wirklichkeit anders anfühlt.

In Wahrheit nämlich wusste ich absolut nicht, was auf mich zukam, und erschrak. Erst wurde mit

Deep Brain Simulation

stummer, feinster Klinge geschnitten, dann die Haut zurückgezogen und festgeklammert. Als der Bohrer in die Zielführung eingesetzt wurde, um sich sofort anschließend dröhnend durch meinen Schädel zu fräsen, schloss ich dann doch lieber die Augen. Man hatte mir das Anlegen des Operationsringes (der ja die Instrumente deutlich gezeigt hätte und dessen Abdrücke über den Augenbrauen und auf dem Hinterkopf ich noch lang, wochenlang spürte) mittels eines Sedativums erspart, nur um mich dann mit dem Bohrer umso mehr zu foltern. Wenn da nicht Karma gewesen wäre, die mir meine Angst nicht abnahm, aber mich darin mitfühlend auffing. Mein gutes Karma! Ich glaube, ich machte gute Miene zum bösen Spiel, so lange ich es vermochte, mit anderen Worten: ich war, behaupte ich, ein sehr, sehr, sehr tapferer Indianer!

Im Raum waren neben der Frau, die mir die Sinne rauben sollte, und dem freundlichen Mann mit dem Messer noch ein dekorierter Offizier des Generalissimus sowie zwei Assistentinnen. Zumindest zeitweise, so habe ich mir hinterher sagen lassen, wären auch mein ziemlich zufriedener Neurologe und ein Techniker der Herstellerfirma meines Stimulators anwesend gewesen; sie merkte ich nie. Mein syrischer Chirurg sprach wenig, nüchtern und leise, in einem meist freundlich-familiären Umgangston mit den Kollegen im Raum (die ich bestenfalls hören konnte), aber solide-fachlich bis technisch von seiner Tätigkeit,oder wenn er zum Beispiel ein neues Gerät brauchte; die Assistentin antwortete wirklich ausgesprochen spontan (um nicht zu sagen, noch vor der Frage!) mit „Gerne!“ oder dem noch schlimmeren Kellnerinnenunwort „Sehr gerne!“, denn sie hatte da

Deep Brain Simulation

schon längst Tupfer, Watte oder anderes Gerät parat, die Spülung oder die feine Elektrode in der Hand. Klar, eine solche Operation machte sie schließlich fast jeden Tag! Und ich lag da und wunderte mich über diesen höchst devoten Wortwitz-Wahnsinn am Rande der Servilität. Die absurde Komik entglitt mir aber sofort wieder, weil ich ein neues, beängstigendes Detail bemerkte, und ich zählte die Sekunden bis zum nächsten Schnitt in mein Fleisch. Karma aber hielt meine Hand und mich! Ich war halbwegs geborgen.

Dann wurden die Elektroden eingeführt; erst zum groben Einrichten eine alte „gewöhnliche Vierer“. Diese befand sich in einer Art Hülle und diese wiederum in der Zielführung, wofür der starre Kopfring erforderlich war. Ich vermute, dass in der ersten Dunkelphase meines Gehirns (in der Zeit des Anlegens meines Kopfgeschirrs – also danach, logisch!) ein dreidimensionales Bild meines Kopfes angefertigt wurde, das für die nächsten Stunden als Blaupause für meine Zukunft respektive die Operation am – hoffentlich – schmerzunempfindlichen Hirn diente. Denn das trieb mich trotz aller kühlen, mir eigenen Rationalität um und um: Die zweifelnde Angst, das Zentrum meiner Gedanken, Gefühle und Sehnsüchte könnte irgendwie doch leiden, war mir trotz aller gegenteiliger Beteuerungen kompetentester Quellen geblieben, aber – tatsächlich, da hatten die Herren Kollegen Doktoren Menschenfleischer nicht zu wenig versprochen: mein Hirn spürte nichts. Nur ich merkte, sah und hörte alles, was um mich und in mir vorging.

Schmerz war oft, ein scharfes Messer und vorbei. Dauerhaft unangenehm bis sehr beschwerlich

Deep Brain Simulation

war das lange, fast zehnstündige Liegen auf dem Rücken, und dass der Kopf so gut wie einbetoniert war; ich hatte keine Chance, meine Situation auch nur einen Millimeter zu verbessern. So versuchte ich, meinen Körper leicht zu verrücken oder zu heben, um ihm etwas Luft zu verschaffen, aber jede Bewegung fand ihr schmerzhaftes Ende an der starren Aufhängung des Kopfes. Um das Schnarch-Röcheln und den dadurch austrocknenden Hals zu lindern, öffnete ich den Mund weit und atmete lang und tief. Das half auch, meinen Puls zu beruhigen. Man kann also sagen, ich habe gut mitgearbeitet!

Es wurde Strom angelegt und ich sollte die Hand drehen wie beim Einschrauben von Glühbirnen. Ich gehorchte den kernigen Kommandos des marokkanischen „Offiziers“ beinahe erschrocken, aber augenblicklich (nicht ohne über diese Absurdität zu grinsen: was will der zweite, der Stabsarzt eigentlich von mir? Will er mir die Vorzüge einer erhobenen Stimme ausgerechnet in diesem Moment demonstrieren?), folgte dem ärztlichen Finger mit meinen Augen und sah auch nichts doppelt; ich zählte die Wochentage und Monatsnamen rauf und runter und nichts kribbelte verräterisch wie „Strom an Froschschenkel“. Dann hörte ich aus dem Off die Stimme meines Operateurs, dass er die Sonde noch um wenige Millimeter verschieben werde. Gesagt. Getan. Der Profi war’s bald zufrieden, und die Musterelektrode wurde gegen die originale getauscht. Mir ging kurz durch den Kopf, warum nicht gleich die richtige Elektrode eingesetzt wurde, aber ich fand weder Zeit noch die Kraft, diese Frage auch laut zu stellen.

Deep Brain Simulation

Dasselbe Spiel anschließend mit rechts. Dieselbe Tortur. Danach begann der Chirurg mit dem Verlegen des Stimulators sowie dem Vernähen der Haut. Er setzte mit geübter Hand das Skalpell in meinen Skalp und schnitt ihn auf, um die Kabel auf dem Schädel und hinter dem rechten Ohr und unter die Haut in Richtung Brust ziehen zu können, was mir Tränen in die verwunderten, wunden Augen trieb; ich staunte nicht schlecht, was ich alles aushalten sollte und konnte. In dieser Phase hielt mir mein Karma auch schon eine Maske auf Mund und Nase, hieß mich tief ein und aus zu atmen (was ich nur zu gerne tat) und befreite mich gnädig vom weiteren Gemetzel. Die Montage des Stimulators erlebte ich nicht mehr bei Bewusstsein. Da war ich aber froh!

Ich hatte die Zeit verloren. War es nachts, tags oder irgendwann dazwischen? Träumte ich? Irgendjemand röchelte. Dazwischen laute Stimmen, ziemlich durcheinander und nicht zu verstehen. Oder doch, zumindest phasenweise konnte ich einzelne Worte nach mühsamen Nachdenken und anhand einer dumpfen, brüchigen Erinnerung, diese Worte schon mal irgendwie, irgendwo, irgendwann gehört zu haben, entschlüsseln. Es war vom Wetter und einem Gartenfest die Rede. Die Stimmen klangen schnell, leicht und unangestrengt, fast fröhlich, jedenfalls sehr alltäglich. Immer noch war da das Röcheln, vielleicht Schnarchen, das ich auch von mir ganz gut kannte, das ich aber nicht lokalisieren konnte. Ich musste dann doch schmunzeln, denn offensichtlich – so dämmerte mir – war dies der Aufwachraum und ich es doch selbst, der da röchelte.

Bin ich das? Bin das noch ich?